Xxv. §. 3. Die französische Uebermacht und der Materialismus. 567
Alles wieder in die tiefste Unterwürfigkeit hinabzuscheuchen. Was vom
stolzen Adel nicht in den Eroberungskriegen des Königs seine er-
wünschte und ruhmvolle Beschäftigung fand, das sah man am Hofe
des Königs um den Sonnenschein seiner Gunst, um den Beifall der
leichfertigen Damen buhlen und zu elenden Hofschranzen, zu entnervten
Lüstlingen herabsinken. Frankreich, das unruhige, durch die Bür-
gerkriege bis auf den Grund zerrissene und zerspaltene Frankreich war
wieder ein einiges, fleißiges, gehorsames Land geworden; Geistlichkeit,
Adel und Bürgerschaft wetteiferten in zuvorkommender Willfährigkeit
gegen die Winke ihres königlichen Herrn. Die angeborene Beweglich-
keit des Geistes richtete sich plötzlich nach des Königs Willen und auf den
Rath seines hochgeschätzten Ministers Colbert (S. 361) aus friedliche
Beschäftigungen, auf Handel und Seefahrt, auf Fabriken und Manu-
sacturen, auf Industrie und gewerbliche Unternehmungen aller Art.
Denn „reich werden wollen" war ja die Losung des Tages geworden,
die Reichthümer einer halben Welt in sein Land zu verpflanzen, war
des Königs und seines Ministers ausgesprochene Absicht; aber nicht
etwa dazu, daß die Unterthanen sich nun an ihrem Wohlstand erfreuen
und unter dem starken Schutz einer gerechten und wachsamen Regie-
rung ein ruhiges und gottgefälliges Leben führen möchten, sondern
— um desto größere Steuern, desto stärkere Auflagen zahlen zu kön-
nen. Denn Geld, Geld bedurfte der König zur Ausführung aller
seiner vielen und weitgreifenden Pläne. Ganz Europa, so hatte er
sich vorgenommen, sollte sich vor ihm beugen und seine Obmacht an-
erkennen. Am liebsten hätte er gleich die Kaiserkrone gehabt. Da
aber das nicht möglich war, so wollte er wenigstens dem Papst, dem
Kaiser und allen Königen Europa's sammt dem türkischen Sultan Gesetze
vorschreiben und sie zu unterwürfigen Bewunderern seiner Größe machen.
Man muß gestehen, es ist ihm gelungen, das Meiste ist ihm gelungen und
es wäre ihm vielleicht Alles gelungen, wenn nicht gerade im entscheidenden
Augenblick, als sein Uebermuth auf's Höchste gestiegen war, der Statthal-
ter von Holland, Wilhelm von Orani en, auf den englischen Thron
berufen wäre (1688), der es sich zur Aufgabe seines Lebens gemacht
hatte, die Uebermacht Frankreichs und Ludwig's Xiv. zu bekämpfen.
Aber wie mächtig und unantastbar stand er schon da! Wie beugte
sich der Papst vor ihm, was hat Spanien sich gefallen lasten müssen, mit
welch' ruchlos empörendem Uebermuthe behandelte er unser unglück-
seliges Vaterland. Nie war einer seiner Nachbaren vor ihm sicher.
Kein Vertrag, kein Herkommen, keine übernommene Verpflichtung
schützte gegen die heißhungrige Raubgier dieses Menschen. Nie war
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Extrahierte Personennamen: Wilhelm_von_Orani Wilhelm
Extrahierte Ortsnamen: Frankreich Frankreich Europa Holland Frankreichs Spanien
Xxii. §. 8. Die neue Staatskunst der luxemburgischen Kaiser. 4o1
Rathhäuser, die kühnen Thore und Thürme, die öffentlichen Gebäude
mit ihrem überreichen Schnitzwerk und ihren vielbewunderten Kunst-
schätzen mannigfacher Art. Kurz, in den Städten entfaltete sich theils
unter dem Schutze einsichtiger Fürsten, größtentheils aber in völligster
Freiheit jener ganze Wunderbau germanischen Bürgerthums, der
unser deutsches Volk weit über alle anderen Völker erhoben hat.
Es ist leicht begreiflich, daß bei solchem Neichthum innern Lebens
das deutsche Volk sich nicht sehr um die Abwesenheit oder Schwäche
der Kaisermacht bekümmerte. Wenn auch die Fürsten oder einzelne
Corporationen, welche durch übermächtige Gegner Noth litten, die Her-
stellung eines kräftigen kaiserlichen Regimentes wünschten und auch
einmal den Versuch machten, an des „faulen" Wenzel Stelle einen
andern, thätigern Fürsten, den Ruprecht von der Pfalz zum Kai-
ser zu erheben (1400—1410), so blieb doch das Volk im Ganzen von
diesem Wechsel unberührt. Früher würde doch wenigstens ein Kampf
zwischen den beiden Gegenkaisern und ihren Anhängern entstanden sein;
jetzt fiel es fast Niemandem ein, sich entweder für den Wenzel oder
den Ruprecht zu entscheiden und Partei zu nehmen. Man kümmerte
sich um den Einen so wenig, wie um den Andern. Selbst als Wen-
zel mehrere Male in die Gefangenschaft seines eignen Bruders Sieg-
mund gerieth, griffen die deutschen Reichsfürsten nicht ein, wenig-
stens nicht in kräftiger und entscheidender Weise. Was die Luxemburger
im Innern ihrer Erbländer thaten, das ging ja, so war die Stim-
mung, keinen der deutschen Fürsten etwas an. Und doch war ihre
Wirksamkeit in jenen östlichen Gebieten Deutschlands von der größten
Wichtigkeit und Bedeutung. Sie haben diese slavischen Länder erst
eigentlich für Deutschland erobert, zu vorwiegend deutschen Län-
dern gemacht. So wenig Karl Iv. für Deutschland gethan hat, so
thätig und einsichtig sorgte er für sein liebes Böhmen. Da wußte er
vor allen Dingen die öffentliche Sicherheit und die Gerechtigkeitspstege
wieder herzustellen, da war er unablässig beschäftigt, Wege zu bahnen,
Brücken und Straßen anzulegen, Flüsse schiffbar zu machen, den Land-
bau, Handel und Gewerbe zu beleben. Deutsche Ansiedler zog er in's
Land, begünstigte ihre Sprache, ihre Gesetze, ihre Sitten, ihre betrieb-
samen Unternehmungen. Gelehrte und Künstler fanden an seinem
Hofe ehrenvolle Aufnahme. Die böhmischen Städte strahlten von
Prachtbauten, Kirchen und Palästen, die er aufführen ließ, in Prag er-
richtete er (1348) eine Universität, neben Heidelberg die erste in Deutsch-
land. Und wie für Böhmen, so sorgte er mit gleichem Eifer für
Schlesien, für die Lausitz, für Brandenburg, denn alle diese weiten
Landschaften hatte er theils durch Heirath, theils durch Erbvertrag oder
Ankauf zu seinem Böhmen und Mähren hinzugezogen, so daß sich sein
Erbreich im Osten Deutschlands fast von der Donau bis zur Ostsee
erstreckte. Viel von dem, was dieser thätige und geistreiche Fürst, der
leider nach seiner welschen Art nur zu sehr den „materiellen Interessen"
dienstbar war, für das Wohl seiner Länder gegründet und aufgebaut,
29*
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Extrahierte Personennamen: Wenzel Karl_Iv Karl
Extrahierte Ortsnamen: Deutschlands Deutschland Deutschland Prag Heidelberg Deutsch- Brandenburg Deutschlands Donau Ostsee
506 Xxiii. §. 10. Umgestaltung des Papstthums und Religionsgespräche.
stantischen Lehre und kirchlichen Verfassung ist geblieben. In keinem
andern reformirten Lande ist der strenge Prädestinationsbegriff Cal-
vin's so sehr zur Geltung gekommen, wie in den Niederlauden. — In
engster Verbindung mit Frankreich stand damals auch Schottland.
Die Vermählung der schottischen Prinzessin Maria Stu a rt mit einem
französischen Prinzen führte einen lebhaften Verkehr zwischen beiden
Ländern herbei. Aber noch inniger war der Verkehr, welchen Knor,
der große Reformator Schottlands, mit dem von ihm hochverehrten
Calvin in Genf selber hatte. Knor ward ein Schüler Calvin's, und
führte die calvinische Reformation, wenn auch mit etlichen Abweichun-
gen, auch unter dem schottischen Volk ein, und von Schottland aus, un-
terstützt durch geflüchtete Engländer, die aus Genf wiederkehrten, nahm
dieselbe calvinische Form der Gemeindeverfassung, des Gottesdienstes, der
-Lehre, der Zucht, auch ihren Weg nach England. Denn auch dieses
insularische Volk, welches doch weit weniger vom romanisch keltischen,
weit mehr vom echt germanischen Blut in seinen Adern trägt als die
Franzosen, zeigt sich völlig außer Stande, in die eigenthümliche Form
der deutsch-lutherischen Reformation sich zu schicken. Es ist wahr,
England hat seine ganze Bedeutung in der Weltgeschichte, seine beson-
dere Aufgabe unter den Völkern Eurvpa's erst durch die Reforma-
tion empfangen. Vor dieser Zeit hatten wir keine Veranlassung, von
England zu reden. Auch jetzt dauert es noch einige Zeit, bis es ein
größeres Interesse in Anspruch nimmt, nämlich so lange, bis die Re-
formation auf englischem Boden sich vollkommen befestigt hat. Aber
das können wir hier doch gleich anmerken: daß die Aufgabe des prote-
stantischen Englands vorzugsweise eine praktische ist. Das englische Volk,
so weit es von christlichem Leben ergriffen ist, ist ein missionarisches
Volk. Cbristenthum ausbreiten, in's Leben einführen, zur äußern Er-
scheinung bringen, das ist Sache des Engländers, während die Ver-
tiefung in christliche Gedanken, Forschungen, Lehren, die innerliche Durch-
bildung und Entwicklung christlicher Lehrpunkte und Grundsätze we-
sentlich dem Deutschen zukommt. Denn nach außen gerichtet, geneigt
zur Vielgeschäftigkeit, stets bereit zur Einmischung in fremde Sachen ist
dies halbgermanische Volk der Engländer. Es würde sich selbst ver-
lieren in seiner sinnverwirrenden ruhelosen Thätigkeit, wenn es nicht die
strenge methodische Zucht nach calvinischen Grundsätzen an sich selber
übte, oder wie es die Anhänger der Staatskirche thun, sich unter die
Autorität einer stark bevorrechtigten Geistlichkeit und die vielfach er-
müdenden Forderungen langwieriger und streng geregelter gottesdienst-
licher Uebungen willig unterordnete.
§. 10. Umgestaltung des Papstthums und Religionsge-
spräche.
Mehr als alles Andere hatte die durchaus ungeistliche Sinnesweise
der Papste und des ganzen römischen Hofes jenen Widerwillen gegen
Rom erweckt, welcher den Reformatoren überall den Weg bahnte und
ihrem Werk, ihrer Lehre immer ausgebreitetere Geltung verschaffte.
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TM Hauptwörter (100): [T43: [Zeit Volk Jahrhundert Geschichte Reich Staat Leben Kultur Deutschland Mittelalter], T90: [Luther Kirche Lehre Schrift Wittenberg Papst Kaiser Reformation Jahr Konzil], T95: [Bewohner Sprache Volk Land Bevölkerung deutsche Stamm Religion Neger Einwohner], T86: [Kaiser Protestant Katholik Fürst Kurfürst Land Kirche Karl Reichstag Krieg], T16: [Ende Körper Strom Bild Hebel Hand Auge Wasser Gegenstand Seite]]
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Extrahierte Personennamen: Maria_Stu Maria Calvin
Extrahierte Ortsnamen: Cal- Niederlauden Frankreich Schottland Schottlands Genf Schottland Genf England England England Englands Rom